Das Klima: Was wir nicht wissen
(aus der "Zeit" vom Januar 2019):
Ökosysteme sind komplex, die Natur ist träge. Niemand kann sagen, wann genau das Klima zu Katastrophen führt.
"Heißzeit", so lautet das Wort des Jahres 2018. Gekürt hat es, fraglos unter dem Eindruck des Dürresommers, im Dezember die Gesellschaft für deutsche Sprache in Mannheim. Doch in die Schlagzeilen gebracht hatte den Begriff das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). In einer Fachzeitschrift hatten PIK-Wissenschaftler zusammen mit internationalen Kollegen im August eine Art Schreckensschau des Möglichen zusammengestellt. In ihrem Aufsatz skizzierten sie, wie bei weiterer Erwärmung in der Natur kritische Schwellen überschritten werden (das arktische Meereis schmilzt, Urwälder sterben ab), was wiederum die Erwärmung beschleunigt, woraufhin weitere Schwellen erreicht werden (am Ende wird das Eis der Ostantarktis instabil) – ein sich selbst verstärkender Effekt. Diese Kaskade würde langfristig in eine um viele Grad wärmere Welt führen und für Jahrtausende eben: in die Heißzeit.
Wie weit die roten Linien (Forscher sprechen von den "Kipppunkten") jeweils noch entfernt sind, das wird in Grad Celsius zusätzlicher Erwärmung ausgedrückt. Mit wie viel Emissionen aber werden diese Temperaturschwellen erreicht?
Das bleibt unklar, und zwar nicht nur, weil Ökosysteme komplex sind und zuweilen sprunghaft reagieren. Es liegt auch am zentralen blinden Fleck der Klimaforschung, der "Klimasensitivität".
Als der spätere Chemie-Nobelpreisträger Svante Arrhenius im Jahr 1895 seine bahnbrechende Berechnung über den Zusammenhang von Verbrennungsgasen und Treibhauseffekt präsentierte, hieß es darin: Verdoppelt sich der Kohlendioxid-Anteil in der Atmosphäre, so steigt die globale Durchschnittstemperatur um zwei bis sechs Grad Celsius an. Als in den 1970er-Jahren die US-amerikanische National Academy of Sciences als erste große Forschervereinigung vor dem Treibhauseffekt warnte, bezifferte sie den Effekt einer CO₂-Verdopplung auf plus 1,5 bis plus 4,5 Grad Celsius – eine riesige Spannweite. Bis heute hat man sie kaum verkleinern können.
Hier liegt das Problem jeder Prognose. Keine seriöse Forschung stellt noch den Treibhauseffekt infrage. Aber wie schnell welche Folgen genau eintreten werden, das ist die große Unbekannte.
Selbst falls – Gedankenspiel! – am 31. Januar das letzte Molekül CO₂ aus einem Schornstein aufstiege, niemand könnte genau sagen: Wie lange und bis auf welches Niveau würde die globale Mitteltemperatur trotzdem noch weiter ansteigen? Gewiss ist, dass die Natur träge reagiert, dass sie auf dem einmal eingeschlagenen Weg erst einmal fortschreitet. Unklar bleibt, wie träge und, andererseits, wie empfindlich ("sensitiv").
Diese Ungewissheit hat gravierende praktische Konsequenzen: Weil man bei jeder Was-wäre-wenn-Berechnung künftiger Entwicklungen eine ganze Spanne unterschiedlich dramatischer Erwärmung erwägen muss, klingen die Auskünfte der Klimaforscher für Laien oft unbefriedigend vage (etwa wenn der Weltklimarat ein Szenario beschreibt, in dem mit "66-prozentiger Wahrscheinlichkeit" das Zwei-Grad-Ziel erreicht wird).
Entsprechend mit Fußnoten belastet sind die vermeintlich simplen Kennzahlen der Klimadiplomaten, andernfalls würden sie mehr Gewissheit vermitteln als besteht. Gleichzeitig muss komplexe Naturwissenschaft so heruntergebrochen werden, dass Verhandler, Regierende und Unternehmer sich daran orientieren können, etwa um sich auf Emissionsreduktionen zu einigen.
Kaum einfacher ist es mit der Zuordnung einzelner Wetterlagen, etwa der aktuellen Schneemengen in den Alpen. Einerseits dürfte der Klimawandel künftig eine Vielzahl von Extremen begünstigen. Andererseits ist, um seinen konkreten Beitrag zum Wetter zu beziffern, eine meteorologisch-statistische Auswertung des Einzelfalls vonnöten. Solche "Attributionsforschung" ist bislang mühsame Handarbeit. – Oft, wenn die Frage "War das jetzt der Klimawandel?" fällt, fußen die Antworten noch auf schierer Plausibilität.
Auch im Verständnis wichtiger Teile des Erdklimasystems klaffen noch Wissenslücken: Welche Rolle etwa die Wolken abhängig von ihrer Höhe bei Erwärmung und Abkühlung spielen, ist bis heute schwer durchschaubar. Wie dynamisch die großen Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis sind, haben Glaziologen in der Vergangenheit unterschätzt. Wie viel Wärme der Ozean schon aufgenommen hat und wie viel er folglich noch schlucken kann, ist zumindest unklar. Zudem stellen mehrere der eingangs erwähnten Kipppunkte in diesem komplexen System gefährliche Joker dar: Tauen beispielsweise die sibirischen Dauerfrostböden, drohen dort große Mengen Methan in die Atmosphäre zu gelangen. Auch aus dem Nordpolarmeer könnte Methan aufsteigen. Anders als Fabrikschlote, Auspuffe, Zementwerke und Kuhmägen entziehen sich solche Quellen, einmal geöffnet, aber der menschlichen Kontrolle.
Man könnte auch sagen: Es ist unklar, wie weit die Menschheit es noch treiben kann, bis sie – ganz prinzipiell – die Kontrolle über das Klima verliert.
(aus der "Zeit" vom Januar 2019):
Ökosysteme sind komplex, die Natur ist träge. Niemand kann sagen, wann genau das Klima zu Katastrophen führt.
"Heißzeit", so lautet das Wort des Jahres 2018. Gekürt hat es, fraglos unter dem Eindruck des Dürresommers, im Dezember die Gesellschaft für deutsche Sprache in Mannheim. Doch in die Schlagzeilen gebracht hatte den Begriff das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). In einer Fachzeitschrift hatten PIK-Wissenschaftler zusammen mit internationalen Kollegen im August eine Art Schreckensschau des Möglichen zusammengestellt. In ihrem Aufsatz skizzierten sie, wie bei weiterer Erwärmung in der Natur kritische Schwellen überschritten werden (das arktische Meereis schmilzt, Urwälder sterben ab), was wiederum die Erwärmung beschleunigt, woraufhin weitere Schwellen erreicht werden (am Ende wird das Eis der Ostantarktis instabil) – ein sich selbst verstärkender Effekt. Diese Kaskade würde langfristig in eine um viele Grad wärmere Welt führen und für Jahrtausende eben: in die Heißzeit.
Wie weit die roten Linien (Forscher sprechen von den "Kipppunkten") jeweils noch entfernt sind, das wird in Grad Celsius zusätzlicher Erwärmung ausgedrückt. Mit wie viel Emissionen aber werden diese Temperaturschwellen erreicht?
Das bleibt unklar, und zwar nicht nur, weil Ökosysteme komplex sind und zuweilen sprunghaft reagieren. Es liegt auch am zentralen blinden Fleck der Klimaforschung, der "Klimasensitivität".
Als der spätere Chemie-Nobelpreisträger Svante Arrhenius im Jahr 1895 seine bahnbrechende Berechnung über den Zusammenhang von Verbrennungsgasen und Treibhauseffekt präsentierte, hieß es darin: Verdoppelt sich der Kohlendioxid-Anteil in der Atmosphäre, so steigt die globale Durchschnittstemperatur um zwei bis sechs Grad Celsius an. Als in den 1970er-Jahren die US-amerikanische National Academy of Sciences als erste große Forschervereinigung vor dem Treibhauseffekt warnte, bezifferte sie den Effekt einer CO₂-Verdopplung auf plus 1,5 bis plus 4,5 Grad Celsius – eine riesige Spannweite. Bis heute hat man sie kaum verkleinern können.
Hier liegt das Problem jeder Prognose. Keine seriöse Forschung stellt noch den Treibhauseffekt infrage. Aber wie schnell welche Folgen genau eintreten werden, das ist die große Unbekannte.
Selbst falls – Gedankenspiel! – am 31. Januar das letzte Molekül CO₂ aus einem Schornstein aufstiege, niemand könnte genau sagen: Wie lange und bis auf welches Niveau würde die globale Mitteltemperatur trotzdem noch weiter ansteigen? Gewiss ist, dass die Natur träge reagiert, dass sie auf dem einmal eingeschlagenen Weg erst einmal fortschreitet. Unklar bleibt, wie träge und, andererseits, wie empfindlich ("sensitiv").
Diese Ungewissheit hat gravierende praktische Konsequenzen: Weil man bei jeder Was-wäre-wenn-Berechnung künftiger Entwicklungen eine ganze Spanne unterschiedlich dramatischer Erwärmung erwägen muss, klingen die Auskünfte der Klimaforscher für Laien oft unbefriedigend vage (etwa wenn der Weltklimarat ein Szenario beschreibt, in dem mit "66-prozentiger Wahrscheinlichkeit" das Zwei-Grad-Ziel erreicht wird).
Entsprechend mit Fußnoten belastet sind die vermeintlich simplen Kennzahlen der Klimadiplomaten, andernfalls würden sie mehr Gewissheit vermitteln als besteht. Gleichzeitig muss komplexe Naturwissenschaft so heruntergebrochen werden, dass Verhandler, Regierende und Unternehmer sich daran orientieren können, etwa um sich auf Emissionsreduktionen zu einigen.
Kaum einfacher ist es mit der Zuordnung einzelner Wetterlagen, etwa der aktuellen Schneemengen in den Alpen. Einerseits dürfte der Klimawandel künftig eine Vielzahl von Extremen begünstigen. Andererseits ist, um seinen konkreten Beitrag zum Wetter zu beziffern, eine meteorologisch-statistische Auswertung des Einzelfalls vonnöten. Solche "Attributionsforschung" ist bislang mühsame Handarbeit. – Oft, wenn die Frage "War das jetzt der Klimawandel?" fällt, fußen die Antworten noch auf schierer Plausibilität.
Auch im Verständnis wichtiger Teile des Erdklimasystems klaffen noch Wissenslücken: Welche Rolle etwa die Wolken abhängig von ihrer Höhe bei Erwärmung und Abkühlung spielen, ist bis heute schwer durchschaubar. Wie dynamisch die großen Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis sind, haben Glaziologen in der Vergangenheit unterschätzt. Wie viel Wärme der Ozean schon aufgenommen hat und wie viel er folglich noch schlucken kann, ist zumindest unklar. Zudem stellen mehrere der eingangs erwähnten Kipppunkte in diesem komplexen System gefährliche Joker dar: Tauen beispielsweise die sibirischen Dauerfrostböden, drohen dort große Mengen Methan in die Atmosphäre zu gelangen. Auch aus dem Nordpolarmeer könnte Methan aufsteigen. Anders als Fabrikschlote, Auspuffe, Zementwerke und Kuhmägen entziehen sich solche Quellen, einmal geöffnet, aber der menschlichen Kontrolle.
Man könnte auch sagen: Es ist unklar, wie weit die Menschheit es noch treiben kann, bis sie – ganz prinzipiell – die Kontrolle über das Klima verliert.